Belarus Daily | 3. Apr

Tichanowskaja bittet internationale Entscheidungsträger*innen, den Koordinierungsrat zu schützen; Folter und Misshandlung politischer Gefangener gehen in Belarus weiter

3. April 2021 | Voice of Belarus
Swetlana Tichanowskaja.
Source: Deutsche Welle

Swetlana Tichanowskaja bittet internationale Entscheidungsträger*innen um Unterstützung des Koordinierungsrates

Swetlana Tichanowskaja hat gemeinsam mit der Nobelpreisträgerin Swetlana Aleksijewitsch und 55 Mitgliedern des Koordinierungsrates einen Aufruf an internationale Organisationen, darunter die UN, die OSZE, das Europäische Parlament, das US-Außenministerium, den Europarat und ausländische Vertretungen in Belarus gerichtet. Tichanowskaja stellt fest, dass die Mitglieder des Koordinierungsrates Druck und Repressionen ausgesetzt worden sind, während viele seiner Führungspersönlichkeiten im Gefängnis sitzen oder gezwungen wurden, das Staatsgebiet von Belarus zu verlassen. Darüber hinaus werden Gesetzesänderungen vorgenommen und Strafverfahren gegen Mitglieder des Koordinierungsrates eingeleitet, in denen sie des Extremismus und des Terrorismus beschuldigt werden. Die Aktionen der Regierung haben nichts mit der Arbeit des Koordinierungsrates zu tun, da das Ziel der Opposition eine friedliche Lösung der politischen Krise ist. Tichanowskaja ruft die internationale Gemeinschaft dazu auf, den Koordinierungsrat und einen inklusiven Dialog zu unterstützen.

Deutsche Forscher haben ermittelt, wen die Belarus*innen gewählt haben

Source: Zois-berlin.de

Das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien führte im Dezember 2020 eine Online-Befragung unter mehr als 2.000 Belarus*innen durch, die in Städten mit mindestens 20.000 Einwohnern leben. Die Forscher*innen wollten ermitteln, wie die soziale und politische Stimmung in der belarusischen Gesellschaft ist. 

65 % der Befragten glauben, dass die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020 zugunsten der amtierenden Regierung manipuliert wurden. 52,5% der Prozent gaben an, für Swetlana Tichanowskaja gestimmt zu haben. 17,6% der Befragten stimmten für Alexander Lukaschenko. 

Die Proteste nach den Wahlen werden in erster Linie mit der Verteidigung der politischen und bürgerlichen Rechte verbunden. Die größte Bedeutung hat für die Belarus*innen das Recht auf persönliche Unverletzlichkeit und Sicherheit. An zweiter Stelle stehen politische Rechte (Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Informationsfreiheit), gefolgt von den wirtschaftlichen und sozialen Rechten. Bei Protesten in den Vorjahren war die Reihenfolge der Prioritäten noch umgekehrt, stellen die Autor*innen der Umfrage fest.

Die meisten Demonstrant*innen schlossen sich den Protesten unmittelbar nach den Wahlen im August 2020 an. Der Hauptgrund war Gewalt durch die Sicherheitskräfte. 20% der Befragten gaben an, dass sie selbst, ihre Familienmitglieder oder Freund*innen direkt von Repressionen betroffen waren. Dies sind hauptsächlich Einwohner*innen von Minsk oder Städten im Westen von Belarus. Neben anderen Motiven der Demonstrant*innen spielen der Wunsch, gehört zu werden und der Wunsch, die Einheit der Nation zu demonstrieren, eine wichtige Rolle.

Die unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt gegen Demonstrant*innen gibt 70% der Befragten Anlass zur Besorgnis. Außerdem zeigt die Umfrage, dass der Aktivismus dezentral war. Nur 4% der Befragten gaben an, mit einer Partei verbunden zu sein.

In Belarus werden Folter und grausame Behandlung politischer Gefangener fortgesetzt

Wolha Salatar.
Source: TUT.BY

Wolha Salatar ist bereits die dritte Woche in Haft. Sie wurde am 18. März festgenommen, als sie ihre zehnjährige Tochter zur Musikschule brachte, und ihre Wohnung wurde am selben Tag durchsucht. Wolha gab an, dass am Tag ihrer Verhaftung körperliche Gewalt gegen sie angewendet wurde: Sie schlugen sie auf den Hinterkopf und das Gesäß, verdrehten ihr die Arme und pressten ihren Kopf auf den Boden, um sie zu zwingen, ihr Telefon zu entsperren. Sie beschloss, von ihrem Recht Gebrauch zu machen, sich nicht selbst zu belasten. Ihre Anwälte fanden Blutergüsse an den Armen und am Hals sowie Prellungen am Gesäß und beantragten die Bestellung eines forensischen Sachverständigen, um die Verletzungen an Wolhas Körper zu dokumentieren. Bislang wurde dem Antrag nicht stattgegeben. Im August 2020 war Wolha Salatar Wahlbeobachterin, nach dem 9. August wurde sie Freiwillige im Lager in der Akreszina-Gasse. Nach Angaben des Innenministeriums wurde gegen Wolha Salatar ein Strafverfahren „wegen aktiver Protesttätigkeit“ eingeleitet. Laut Polizei war sie Administratorin eines lokalen Chatrooms eines Innenhofs und seit letztem Sommer Organisatorin von nicht genehmigten öffentlichen Veranstaltungen wie „Teepartys, Spaziergängen und Konzerten“. Wolha Salatar lebt in Zhdanowitschy. Zusammen mit ihrem Mann erzieht sie fünf Kinder im Alter von 4 bis 17 Jahren. Menschenrechtsorganisationen stufen Wolha Salatar als politische Gefangene ein.

Aljaxej Barysau.
Source: BELSAT

Am 23. März verhafteten Sicherheitskräfte Aljaxej Barysau, einen Aktivisten der Organisation „Ein Land zum Leben“ („Strana dlja Zhisni“), als er auf dem Weg zur Arbeit war. Im Auto schrien sie ihn an und schlugen ihn auf den Kopf. Er wurde später mit erhöhtem Blutdruck und traumatischer Schädelverletzung ins Krankenhaus eingeliefert. Die Verhandlung fand ohne seine Anwesenheit statt, er wurde in Abwesenheit zu 7 Tagen Ordnungshaft verurteilt, während er im Krankenhaus war. Aljaxej wurde in Abwesenheit verurteilt, und wofür, weiß nicht einmal seine Frau.

Im Zhodsina-Gefängnis geht die Misshandlung politischer Gefangener weiter. Während der Vernehmung werden sie auf die Beine, einige auf den Rücken und auf die Nieren geschlagen. In Zellen, die für zehn Personen vorgesehen sind, befinden sich jeweils 15 Personen, ihre Matratzen und die gesamte Literatur wurden ihnen weggenommen.

Nach Ansicht der Regierung gibt es keine Proteste, aber die Festnahmen und Gerichtsverfahren gehen weiter

Obwohl die Regierung beteuert, dass die Proteststimmung abgeklungen ist, finden selbst in Kleinstädten regelmäßig Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit Protesten statt.

In Iwanawa spazierte die Lehrerin Alena Puzykowitsch mit ihren Freundinnen mit weiß-rot-weißen Regenschirmen durch die Stadt. Sie wurde zu einer Geldstrafe verurteilt und ihr Fahrzeug wurde bis zur Zahlung der Geldstrafe beschlagnahmt.

Auch in Kobryn gab es am Tag der Freiheit (25. März) keine Massenaktionen, aber es gab Festnahmen wegen der Dekoration des örtlichen Parks mit weiß-rot-weißen Bändern und der Verteilung von Flugblättern. Infolgedessen kam die Kinderärztin Julia Rafalowitsch für sieben Tage in Haft. Während sich Julia Rafalowitsch in Haft befindet, gibt es Informationen, dass sie aus dem örtlichen Krankenhaus entlassen werden könnte. In der Stadt werden nun Unterschriften zu ihrer Unterstützung gesammelt, weil dies wie eine Bestrafung einer Kinderärztin mit 23 Jahren Berufserfahrung für ihr bürgerschaftliches Engagement wirkt.

Iryna Zischkouskaja.
Source: Gomel.today

In Zhytkawitschy wurde die 36-jährige Kinderärztin Iryna Zischkouskaja zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie „weiß-rot-weiße Bänder an die Bäume gehängt“ und damit ihre „sozialen und politischen Interessen“ zum Ausdruck gebracht hatte.

Source: TUT.BY

Am Tag der offenen Tür bei der Belarusischen Technischen Hochschule (BNTU) wurde ein Student wegen Bändern am Rucksack festgenommen. Er wurde einer Einzelmahnwache beschuldigt. Nach der Festnahme wurde er freigelassen, da er minderjährig ist.

Nach dem Bericht des Menschenrechtszentrums Viasna gibt es in Belarus 999 politisch Verfolgte. In Gefängnissen sitzen 325 politische Gefangene und ihre Zahl steigt weiter an. Festnahmen friedlicher Protestteilnehmer*innen werden ebenfalls fortgesetzt, einschließlich willkürlicher Festnahmen von Bürger*innen wegen der Verwendung weiß-rot-weißer Symbole in Privathäusern und -geländen. Insgesamt wurden im März 1.139 Personen festgenommen (841 davon in Minsk), 490 Gerichtsurteile wurden erlassen: In 395 Fällen wurde Ordnungshaft verhängt, in 82 Fällen eine Geldstrafe.