„Ein Krieg gegen alles Lebendige“

Brief von Maria Kalesnikawa aus der Untersuchungshaft

25. November 2020, 23:19 | Irina Romalijskaja, Current Time
Maria Kalesnikawa. Bild aus einer vor der Haft aufgezeichneten Videobotschaft.
Source: Courtesy Photo via Current Time

Die Journalistin Irina Romalijskaja von Current Time TV konnte Maria Kalesnikawa, einer der Anführerinnen der Proteste in Belarus, die seit zweieinhalb Monaten in Untersuchungshaft sitzt, Fragen stellen. Hier sind die Antworten Kalesnikawas aus der Untersuchungshaft.

Kalesnikawa: „Ich sehe das, was geschieht, als Lernprozess, als eine neue Erfahrung“

Können Sie uns sagen, was Sie gerade lesen?

Ich habe erneut Warlam Schalamows „Erzählungen aus Kolyma“ gelesen. Vieles hat sich seitdem geändert, aber das Wichtigste hat sich nicht geändert. Freiheitsentzug ist bereits Strafe genug. Aber dieses System versucht nach wie vor, einen der Menschenwürde zu berauben. Doch ganz gleich, wie schwer es ist, ein Mensch kann immer in sich die Kraft finden, menschlich zu bleiben.

Ich lese auch Yuval Hararis „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“. Ich hatte im Sommer mit dem Lesen angefangen und erst jetzt konnte ich weiterlesen. Dieses Buch ist Pflichtlektüre für jeden, insbesondere für PolitikerInnen. Die Herausforderungen, vor denen unsere Zivilisation steht und noch stehen wird, können nicht vor Ort, in einer Stadt, in einem Land, auf einem Kontinent gelöst werden. Wir sind alle Teil dieser Welt, und das, was sich in Belarus abspielt, sieht unter diesem Gesichtspunkt noch absurder aus: der gegenwärtige Zusammenprall zweier Welten (der archaischen und der zukünftigen).

Woran mangelt es Ihnen?

Was mir am meisten fehlt, sind Familie, Freunde und Angehörige, obwohl ich ihre Unterstützung physisch spüre. Sehr vermisse ich auch Live-Musik und Kunst.

Mit welchen Schwierigkeiten haben Sie zu kämpfen?

Es gibt keine Schwierigkeiten, ich nehme alles, was geschieht, als Lernprozess, als eine neue Erfahrung wahr: den Alltag, den Umgang und die Isolation.

Wie schätzen Sie das Geschehen ein?

Im Land herrscht ein Krieg gegen alles Lebendige und Menschliche, gegen alles, was talentiert und professionell ist.

Wovon träumen Sie?

Ich träume von dem Tag, an dem ich meine Verwandten und Kollegen wieder sehe, wir werden uns umarmen, viel lachen und viel reden. Und natürlich träume ich von einem freien und neuen Belarus.

Was macht Ihnen Sorgen?

Es macht mir Sorge, dass die Gewalt kein Ende findet und die Regierung nicht die Kraft und den Mut aufbringt, auf den Willen des Volkes zu hören und dieses absolute Böse zu stoppen. Ich fürchte, je mehr die Regierung auf Gewalt setzt, desto schwieriger wird für uns die Rückkehr zum Frieden sein. Denn das Regime wird fallen und wir alle werden hier leben müssen: Diejenigen, die geschlagen und verhaftet haben und diejenigen, die geschlagen und verhaftet wurden.

„Es ist schwer, die Logik der Gefängnisleitung zu verstehen.“ Kommentar der Anwältin Ljudmila Kasak

Maria Kalesnikawa wurde von Menschenrechtsaktivisten als politische Gefangene eingestuft. Seit dem 9. September befindet sie sich im Untersuchungsgefängnis in Schodsina weil sie verdächtigt wird, zu Aktionen die die nationale Sicherheit gefährden aufgerufen zu haben. Ihre Anwältin, Ljudmila Kasak, berichtete im Programm von Current Time TV, wie bei Kalesnikawa jene Bücher beschlagnahmt wurden, von denen sie in ihrem Brief erzählt, warum Maria nicht alle Fragen beantworten konnte, die ihr gestellt wurden, und wie die Zensur im Gefängnis funktioniert:

Heute wurden die Bücher, über die Maria schrieb, beschlagnahmt. Wie und warum?

Es ist schwer, die Logik der Gefängnisleitung zu verstehen. Das System ist wie folgt: Es ist unmöglich, Bücher direkt an Maria zu schicken. Die Bücher gehen zuerst in die Bibliothek, und dann werden sie auf ihre Bestellung hin in ihre Zelle gebracht. Und die Bücher, die ihr gestern abgenommen wurden, nämlich Bücher von Stephen Hawking und Yuval Harari, hatte sie vor langer Zeit bekommen. Sie las und studierte sie nach und nach. Gestern gefiel das der Verwaltung plötzlich irgendwie nicht mehr, und sie beschloss, sie ihr wegzunehmen, weil diese Bücher angeblich von der Bibliothek zu ihr gekommen waren, obwohl das prinzipiell nicht sein darf.

Und sie werden sie nicht zurückzugeben?

Das weiß ich noch nicht. Als ich gestern mit Maria sprach, versuchte sie, dies mit der Gefängnisleitung zu klären. Was das Ergebnis des Gesprächs war, wissen wir bislang nicht.

Ist ihr Briefverkehr gestattet? Unter welchen Bedingungen?

Briefverkehr ist ihr erlaubt, im Prinzip auch mit Personen außerhalb der Republik Belarus. Es gibt den Dienst „Pismo.bel“ (Письмо.бел) über den man zuverlässig korrespondieren kann. Vor Beginn der Quarantäne erhielt sie eine große Anzahl von Briefen aus der ganzen Welt – aus den USA, Australien. Sie war sehr glücklich darüber.

Wie funktioniert die Zensur im Gefängnis? Werden die Briefe gelesen, wird etwas herausgeschnitten? Wie läuft das ab?

Natürlich. Die Zensur eingehender Korrespondenz dauert drei Tage. Was sie herausstreichen, liegt, wie sie sagen, in ihrer Kompetenz. Aber die Briefe, die Maria mir zeigte, die zu ihr kamen, die sie besonders schätzt, waren nicht zensiert. Einige der Briefe verschwinden, anscheinend passt ihr Inhalt der Gefängnisleitung nicht. Aber die meisten Briefe sind angekommen. Erst in letzter Zeit hatten wir Schwierigkeiten mit der Korrespondenz, eine Zeit lang war sie ganz eingeschränkt. Zurzeit bekommt sie fünf bis sieben Briefe pro Tag. Wir sind jetzt dabei, das abzuklären.

Wie ist Marias Stimmung, wie ist ihr Gesundheitszustand?

Bis jetzt geht es ihr glücklicherweise gut, auch ihre Gesundheit ist in Ordnung. Sie ist voller Optimismus, voller Fröhlichkeit, und jedes Mal, wenn ich sie sehe, scheint es mir, dass sie noch energischer wird, noch entschlossener, zu siegen.

Warum hat Maria nicht alle meine Fragen beantwortet? Es gab eine Reihe von Fragen, die sie ausgelassen hat. Zum Beispiel, warum sie nicht bei dem Treffen von Alexander Lukaschenko mit politischen Gefangenen war, als er in das KGB-Gefängnis kam, über die Haltung der Leitung ihr gegenüber, über Zellengenossinnen. Darf man nicht über alles reden?

Das glaube ich nicht. Vielleicht hatte sie nicht die Zeit, alle Fragen zu beantworten. Und wenn wir sie noch einmal stellen, ist es gut möglich, dass wir Antworten erhalten. Vielleicht hielt sie es im Moment nicht für nötig, darauf zu antworten. Aber ich weiß, dass sie diese Art von Fragen bereits beantwortet hat und es dazu Veröffentlichungen gibt. Im Prinzip gibt also schon Stellungnahmen von ihr zu diesen Fragen.