Wie können wir Timur retten? Ein unschuldiges Folteropfer wird zum Angeklagten

Die Willkür des belarussischen Staates gegenüber einem minderjährigen Jungen

6. September 2020 | ByHELP-mediagroup
Timur in the hospital
Source: Narodnaja Volya

Von Tag zu Tag verschlimmern sich In Belarus die staatlichen Repressionen und die Versuche der Regierung ihr Handeln zu beschönigen. Am 3. September wurde der minderjährige Timur M. zum zweiten Mal festgenommen und vor den Untersuchungsausschuss (staatliche Ermittlungsbehörde) von Belarus gebracht, um ihn im Zusammenhang mit seiner Teilnahme an den „Massenunruhen“ zu befragen (Strafgesetzbuch, Art. 293). Nach dem Verhör musste er erneut ins Krankenhaus eingeliefert und auf die Intensivstation verlegt werden. Dabei erlitt er einen posttraumatischen Zusammenbruch. Zunächst waren die Vernehmungsbeamten nicht bereit, trotz des Zustands des Teenagers medizinische Hilfe anzufordern. Später musste Timur dann sogar auf der Intensivstation überwacht werden. Als sein Anwalt im Krankenhaus eintraf, wurde er aber nicht sofort zu seinem Mandanten vorgelassen.

Geschichte des Falls

Am 12. August, dem dritten Tag der Proteste gegen die manipulierten Präsidentschaftswahlen und während der illegalen Massenverhaftungen, attackierten OMON-Offiziere den 16-jährigen Timur M., der zu Fuß zum Haus seines Freundes ging. Er erinnert sich: „Menschen in Schwarz stiegen aus dem Bus und begannen, alle mit Schlagstöcken zu verprügeln.“ Er wurde auch geschlagen und in einen Gefangenentransporter gestoßen. Dort wurden Menschen übereinander geworfen  und Bereitschaftspolizisten setzten sich auf sie, schlugen sie zusammen und beleidigten sie verbal. Bereits auf der Polizeiwache schlugen sie Timur weiter, pressten ihm einen Schlagstock tief in den Kehle hinein, stachen ihm mit einem Schlagstock in die Augen und schlugen ihn auf die Fersen. Er wurde gezwungen, die Hymne des OMON zu singen und wurde mit elektrischem Strom gefoltert. Obwohl Timur wiederholt sagte, dass er 16 und somit minderjährig sei,  machten die OMON-Offiziere einfach weiter. Nach all den Aktionen auf der Polizeistation fiel  er ins Koma und kam auf die Intensivstation der städtischen Kinderklinik Nr.3.

Überraschenderweise informierten weder das Krankenhaus noch die Polizei seine Eltern, dass er im Krankenhaus war, stattdessen erhielten seine Eltern einen Anruf von der Schule.

Nach der Nacht auf dem Polizeirevier und all den Schikanen, denen er im Alter von 16 Jahren ausgesetzt war, wurde festgestellt, dass Timur eine leichte Schädel-Hirn-Verletzung, eine Gehirnerschütterung und eine offene Fraktur des Jochbein- und Orbitalkomplexes ohne Verschiebung nach rechts (Bruch der Kieferhöhle ohne Verschiebung der Fragmente  und eine lineare Fraktur des Augenbodens ohne Verschiebung der Fragmente hatte, eine  Hämosinusitis der rechten Kieferhöhle, ein konvulsives Syndrom, ein paraborbitales Hämatom rechts, multiple Kontusionen der Weichteile und Extremitäten sowie traumatische Hornhauterosionen beider Augen.Als Timur am 14. August zur Besinnung kam, teilte er mit, dass er immer noch Glück hatte, denn „ein Mann, der in der Nähe war, hatte einen Stock im Rektum und ein 14-jähriger Junge wurde auf die Leiste geschlagen“.

Was die strafrechtliche Untersuchung des Missbrauchs eines Minderjährigen betrifft, so kam kein Polizeibeamter zu Timurs Haus, um sich seine Geschichte anzuhören. Niemand untersuchte den Fall, obwohl über seine Geschichte in allen bekannten und bedeutenden Medien berichtet wurde. Außerdem hätten am 17. August laut Gesundheitsminister Uladsimir Karanik (jetzt ehemaliger Gesundheitsminister) die Ärzte Informationen über Timurs Verletzungen an die Strafverfolgungsbehörden gesandt. Aus der Generalstaatsanwaltschaft hieß es  jedoch, dass man nicht wisse, ob in Timurs Fall Untersuchungen eingeleitet worden seien oder nicht.

Überraschenderweise verlor Gesundheitsminister Uladsimir Karanik nach seiner Aussage im Fall Timur seinen Ministerposten und landete als neuer Gouverneur in Hrodna. Am 26. August änderte sich seine Position zu diesem Fall dramatisch: Er sagte, dass der 16-jährige Minderjährige in dieser Nacht psychotrope Substanzen in seinem Blut gehabt habe und eine „psychotrope Vergiftung“ erlitten hatte.

Nach Angaben des Anwalts des Jugendlichen, Stanislau Abrasei, sowie nach Daten der ärztlichen Abschlussdiagnose (Epikrise) und nach allen ärztlichen Attesten hatte der Junge in dieser Nacht jedoch weder Alkohol noch Drogen im Körper. Außerdem, so der Anwalt gegenüber dem Nachrichtenportal tut.by, „haben wir ein Zertifikat und einen Bericht, aus dem hervorgeht, dass weder Drogen noch psychotrope Substanzen, die getestet wurden, im Körper gefunden wurden. Wenn eine Person mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert wird, wird Blut abgenommen und überprüft, ob sie berauscht ist usw., so dass, wenn es Konsequenzen gibt und die Geschichte weitergeht, diese Fakten geklärt worden sind. Hier wurde das medizinische Protokoll befolgt, das Blut abgenommen und getestet.“

Am Abend des 3. September veröffentlichte die Ermittlungsbehörde ein Videoband als Beweis für Timurs Beteiligung an den Unruhen.

Die Ermittlungsbehörde  erklärte, dass die Ermittler bei der Untersuchung zahlreicher Videoüberwachungsaufnahmen herausfanden, dass der 16-jährige Timur M.(, der ins Koma fiel, nachdem er von der Bereitschaftspolizei brutal zusammengeschlagen worden war,) sich am 10. August in Minsk „im Epizentrum der Unruhen“ befunden habe. Die Ermittlungsbehörde behauptet auch, dass Timur M. in einen bewaffneten Angriff auf den Fahrer eines MAZ-Lastwagens verwickelt gewesen sei, der gekommen war, um einen Trolleybus zu evakuieren. Das als Beweismittel vorgelegte Video zeigt einige Ungereimtheiten. Ein Teil des der Ermittlungsbehörde vorgelegten Filmmaterials ist im Video nicht datiert. Die Diskrepanzen lassen sich schon auf den ersten Blick erkennen: Am U-Bahnübergang trägt der Mann eine knallgelbe Sportjacke über einem T-Shirt mit rot-schwarzem Streifen. Datum und Uhrzeit der Aufnahme sind nicht angegeben. In den folgenden Aufnahmen ist der Junge ohne Jacke angeblich draußen. Die Aufnahmen sind auf den 10., 22.47. und 23.05. August datiert.

Nun ist es offensichtlich, dass der Jugendliche vor der Bestrafungsmaschinerie gerettet werden muss, zu der auch der belarussische Staat gehört. Es gibt nicht nur Grund zur Sorge um seine Gesundheit, sondern auch um das Leben des Teenagers, da er Zeuge der schrecklichen Verbrechen der belarussischen Sicherheitskräfte geworden ist.

Rechtliche Analyse

Irina S., Master of Law, Fachjuristin für Menschenrechte, Lund, Schweden

Dieser Fall zeigt, dass das Straf- und Strafvollzugssystem voller Ungerechtigkeit ist. Der Staat versucht, sich seiner Verantwortung nach nationalem und internationalem Recht zu entziehen.

Alle Folterfälle, die bei der Staatsanwaltschaft eingehen, bleiben ohne offizielle Untersuchung. Heute versucht der Staat, sich in erster Linie dadurch zu schützen, dass er nach Artikel 23.34 des Gesetzbuches über Ordnungswidrigkeiten der Republik Belarus Personen wegen Teilnahme an Massenunruhen mit Geldstrafen belegt und festnimmt; darüber hinaus leitet der Staat Strafverfahren gegen Personen ein, die von den OMON-Bereitschaftspolizisten „schwer verprügelt“  werden, nicht umgekehrt.

Wir sehen die Ungerechtigkeit des Systems, wir haben Rechtsmittel, um dagegen anzukämpfen, aber es ist praktisch unmöglich, sie in einer Situation einzusetzen, in der Staat und Polizei gegen die Menschen arbeiten, anstatt die Menschen zu schützen, was die Hauptaufgabe sowohl des Staates als auch der Polizei ist.

Wenn wir auf den Fall Timur M. zurückkommen, so hat er laut nationalem Recht am 12. August nicht an den Protesten teilgenommen, er war auf dem Weg zu seinem Freund, er wurde illegal auf die Polizeistation gebracht, wo er sowohl physisch als auch moralisch gedemütigt wurde, und, was noch wichtiger ist, er wurde gefoltert.

Doch selbst wenn er an einem Protest in dieser Nacht teilgenommen hätte, hätte er nicht wegen eines Verbrechens nach Artikel 293 (Massenunruhen) des Strafgesetzbuches angeklagt werden können, da er am Tag des angeblichen „Verbrechens“, dem Tag des Protests, 16 Jahre alt und somit nach dem Strafgesetzbuch minderjährig war. Diese Schlussfolgerung ergibt sich aus der Tatsache, dass nach Artikel 27 des Strafgesetzbuches Personen im Alter von 14 bis 16 Jahren nur für die in der vollständigen Liste in Absatz 2 des oben genannten Artikels aufgeführten Handlungen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können (Strafgesetzbuch der Republik Belarus, Art. 4.8). Massenunruhen (Artikel 293) sind als Straftat nicht in der Liste enthalten, daher sollten und können Personen im Alter von 14 bis 16 Jahren nach dem Strafgesetzbuch nicht für die Teilnahme an Massenunruhen haftbar gemacht werden. Dieselbe Logik gilt auch dann, wenn es am 10. August so geschah, wie die Ermittlungsbehörde behauptet und versucht, dies mit Hilfe eines Videos zu beweisen, das zunächst eher wie eine Fälschung aussieht als die Wahrheit.

Folglich sind die Handlungen der staatlichen Organe nach dem belarussischen Strafgesetzbuch illegal. Darüber hinaus handelt es sich um Verleumdung und Verletzung der verfassungsmäßigen Menschenrechte.

Aus der Sicht des humanitären Völkerrechts ist Belarus Vertragspartei der wichtigsten Menschenrechtsabkommen, wie z.B. des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, usw. Folglich ist Belarus verpflichtet, die Menschenrechte, die in den von ihm ratifizierten Menschenrechtsabkommen enthalten sind, zu respektieren, zu schützen und einzuhalten.

Der Fall Timur M. veranschaulicht: Der Staat verletzt das Recht auf Zugang zu Rechtsmitteln durch seine Weigerung, eine Strafverfolgung einzuleiten und eine Untersuchung durchzuführen, außerdem aufgrund der Verweigerung des anwaltlichen Zugangs zum Klienten. Es liegt auch eine Verletzung des Rechts auf Rechtsbehelf nach Artikel 2 Absatz 3 des Internationalen Pakts über Bürgerliche und Politische Rechte vor:

(3) Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich,

a) dafür Sorge zu tragen, dass jeder, der in seinen in diesem Pakt anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, das Recht hat, eine wirksame Beschwerde einzulegen, selbst wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben;

b) dafür Sorge zu tragen, dass jeder, der eine solche Beschwerde erhebt, sein Recht durch das zuständige Gerichts-, Verwaltungs- oder Gesetzgebungsorgan oder durch eine andere, nach den Rechtsvorschriften des Staates zuständige Stelle feststellen lassen kann, und den gerichtlichen Rechtsschutz auszubauen;

c) dafür Sorge zu tragen, dass die zuständigen Stellen Beschwerden, denen stattgegeben wurde, Geltung verschaffen

Dies wird durch mehrere Fakten bekräftigt: Beamte müssen verantwortlich handeln, aber in der gegenwärtigen Situation ist dies nicht der Fall; der Staat muss ein kompetentes Justizsystem haben, das, wie wir sehen derzeit in Belarus nicht existiert, da kein Fall von Folter untersucht wurde, aber Menschen aufgrund friedlicher Proteste festgenommen werden, Polizeibeamte Meineide gegen Menschen leisten und strafrechtliche Verfolgungen aufgrund fiktiver Anschuldigungen eingeleitet werden.

Darüber hinaus wird das Recht verletzt, nicht der Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden nach Artikel 2 des Übereinkommens gegen Folter, der wie folgt lautet:

(1) Jeder Vertragsstaat trifft wirksame gesetzgeberische, verwaltungsmäßige, gerichtliche oder sonstige Maßnahmen, um Folterungen in allen seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Gebieten zu verhindern.

(2) Außergewöhnliche Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg oder Kriegsgefahr, innenpolitische Instabilität oder ein sonstiger öffentlicher Notstand, dürfen nicht als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden.

(3) Eine von einem Vorgesetzten oder einem Träger öffentlicher Gewalt erteilte Weisung darf nicht als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden.

Alle drei Absätze des Artikels gelten für die gegenwärtige Situation in Belarus. Es gibt Fälle von Folter. Die UNO hat sie anerkannt, auch wenn der Staat schweigt oder Fälle von Folter leugnet. Die Verletzung ist eine Verletzung, und wir müssen alle Maßnahmen des Rechtsschutzes nutzen, um sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene zu beweisen, dass Folter stattgefunden hat, wofür der Staat zur Verantwortung gezogen werden muss, wofür aber auch individuelle strafrechtliche Konsequenzen folgen müssen. Es ist eine anerkannte Tatsache, dass das Recht, nicht gefoltert zu werden, eine ius cogens-Norm des Völkerrechts ist, was bedeutet, dass die gesamte internationale Gemeinschaft den besonderen Charakter dieser Norm übernommen hat, die unter keinen Umständen einer legitimen Beschränkung durch Staaten unterliegt. Selbst wenn wir eine Situation annehmen, in der Belarus die Antifolterkonvention nicht ratifiziert hätte, hätte Belarus immer noch internationale Menschenrechtsverpflichtungen nach dieser Norm und müsste Folter unterlassen.

So sehen und erleben wir jetzt ein klares Ungleichgewicht in den Beziehungen zwischen dem Staat und dem Individuum, wenn die Aussage des Opfers gegen die Aussage des Staates steht, insbesondere gegen die Aussagen der staatlichen Organe und Beamten. Wir können nicht über die Achtung und den Schutz der Menschenrechte sprechen, denn alle grundlegenden Menschenrechte wie Zugang zur Justiz, Rechtsbehelfe, Freiheit von Folter usw. befinden sich in einer Situation, in der der Staat versucht, sich der Verantwortung zu entziehen und sein Handeln zu rechtfertigen, indem er das Opfer verurteilt, weil es ein Opfer ist, und Anschuldigungen gegen dieses Opfer fabriziert. Was wir jetzt tun können, ist, alle Rechtsmittel, das nationale Justizsystem und die internationalen Mechanismen zu nutzen, um Willkür zu bekämpfen und die Täter zu bestrafen. Darüber hinaus können wir die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf das lenken, was hier und jetzt in Belarus geschieht, denn eine internationale Verurteilung kann eine Rolle dabei spielen, den Staat zur Verantwortung zu ziehen.